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Stimmt doch gar nicht!

Geschichte von Mario Rosa-Bian , notiert 2017.

Ich war 14 Jahre alt, als meine Mutter starb. Sie starb 1971 in der Uni-Klinik in NRW zwei Wochen nach einer Operation. Sie hatte Zystennieren und die Ärzte glaubten damals, diese Krankheit mit einer sogenannten Stichelung, d.h. Öffnen und Entfernen der Zystenflüssigkeit, aufhalten zu können. Es ging leider schief.

 

Ein Jahr später versetzte mir ein nur bedingt konfliktfähiger Klassenkamerad durch einen gekonnten Faustschlag in meine rechte Niere eine mächtige Nierenquetschung. Ich war wochenlang im Krankenhaus, das Nierenbluten hörte nicht auf, es folgte Untersuchung auf Untersuchung. Die Blutungen hörten irgendwann auf, gleichzeitig teilten die Ärzte mir mit, dass ich ebenfalls Zystennieren hätte.

 

1976 hatten sich Zysten entzündet. Ich war wieder im Krankenhaus, wo man bei mir auf derselben Station, auf der meine Mutter starb, dieselbe Operation durchführen wollte. Ich habe mir fast in die Hose gemacht, mein Stiefbruder richtete mich auf, er appellierte an meinen Kampfgeist. Die Operation glückte, nach einigen Komplikationen wurde ich nach 6 Wochen entlassen. Man sagte mir, dass ich keine 60 Jahre alt werden würde, dass ich mein Leben darauf einrichten sollte und dass ich keine Kinder in die Welt setzen sollte, damit die Krankheit auf keinen Fall weitervererbt würde.

 

 

Stimmt doch gar nicht!

Ich habe im Oktober 2016 meinen 60. Geburtstag gefeiert.
Hmm, in der Rückschau habe ich mein Leben nicht darauf eingestellt, ich war beruflich genauso aktiv wie erfolgreich, habe seit 1987 die Fa. SAP mit aufgebaut und dort verschiedene Aufgaben und Rollen wahrgenommen. Möglicherweise eine oder zwei zu viel, außerdem musste das Haus ja auch noch umgebaut werden…
1991 bekam ich heftigste Nierenkoliken, auf einer Schmerzskala von 1 bis 10 lagen meine Schmerzen bei 12; ich muss dazu sagen, ich bin männlich, bei Männern ist es ja bekanntlich immer etwas schlimmer.

 

Meine Nierenfunktion ging nun stetig bergab, 1992 bekam ich einen Shunt, ich wurde vom Hausarzt an die nephrologische Ambulanz meiner Uni-Klinik „angebunden“. Dort prophezeite man mir einen radikalen Lebenswandel: ich würde durch die unvermeidliche, bald beginnende Dialyse beruflich erheblich kürzer treten müssen und total immobil, meine Reisen zur SAP nach Walldorf/ Heidelberg würde ich beenden müssen, Urlaub wäre nur sehr eingeschränkt möglich.

 

Stimmt doch gar nicht!

Ich hatte während meiner 2,5 Jahre Dialyse zwei Dialysezentren und zwei Nephrologen, in meiner Stadt und in Wiesloch/ Heidelberg, wo ich fast jede Woche einmal dialysierte. Meine Karriere bei SAP ging weiter. Darüber hinaus machte ich Urlaubsdialysen in Bayern, Österreich, Italien und in der Schweiz. In jeder Dialyse wurde irgendetwas anders, manchmal sogar besser gemacht.

 

Ein Beispiel?
In Italien dialysierte ich immer zusammen mit einem einheimischen ca. 70-jährigen Dialysepatienten, er war klein, drahtig, agil, immer gut gelaunt, trug immer eine Enzo-Ferrari-Sonnenbrille und ließ sich erst nach einem bacio, also einem Kuss auf die Wange, von der hübschen Dialyseschwester anschließen. Sie machte das Spiel mit. Darüber hinaus wurde in Italien die mit Abstand größte Aufmerksamkeit auf eine sterile Dialyseumgebung gelegt. Hätten Sie‘s gewusst?

 

Nach genau 2 Jahren und 6 Monaten Dialyse kam morgens, an meinem letzten Urlaubstag,  der Anruf „Wir haben eine Niere für Sie!“

 

Ich reagierte so, wie ich es vorher, als ich jeden Tag auf diesen Anruf gewartet hatte, nie gedacht hätte: Meine Erwiderung war „Ich kann nicht, ich muss jetzt gleich im Baumarkt was kaufen“.

 

Mein Dialysearzt konnte mich jedoch relativ schnell überzeugen, das Angebot anzunehmen. Ich wurde nachmittags transplantiert, die Niere lief sofort an und alles schien eine gute Entwicklung zu nehmen. Drei Wochen später war ich voll Wasser gelaufen, keiner wusste jemals genau, was die Gründe waren, ich kam auf die Intensivstation und hatte dort Herz- und Kreislaufversagen, kam für eine Woche ins künstliche Koma, war kurz auf dem Weg zum Himmel und wurde reanimiert.

 

Die Niere erholte sich und nach fünf Monaten konnte ich wieder arbeiten gehen, allerdings, ich muss zugeben, mit einer anderen Wahrnehmung für mein Leben und die Welt. Ich bin sicher, jeder Reanimierte weiß, was ich meine. Vogelgezwitscher und Kindergeschrei gehören nun zu meinen „akustischen Leckerbissen“, vorher habe ich es nicht wahrgenommen oder mich darüber geärgert. Die Ärzte sagten, dass mein Transplantat mit etwas Glück 10 Jahren funktionieren würde.

 

Stimmt doch gar nicht!

Sie läuft jetzt über 20 Jahre mit einem ziemlich konstanten Kreatininwert von ca. 1,7 im Durchschnitt.

Ich habe im letzten Jahr ein Angebot meines Arbeitgebers SAP angenommen, das ich nicht ablehnen konnte. Nun bin ich im Vorruhestand und engagiere mich ehrenamtlich im Vorstand der I.G. Niere NRW e.V., insbesondere für die Zeitschrift und den Internetauftritt des Vereins und als Vorstand des Fördervereins für das Geburtshaus meiner Stadt (meine Frau war freiberufliche Hebamme).

 

Wozu diese Geschichte?

Nun, erstens, finde ich, sollten Sie – bei Interesse – wissen, wer ich bin und woher ich komme. Zweitens könnte Sie meine Geschichte anregen, Ihre Geschichte aufzuschreiben und sie vielleicht sogar hier, in eine der nächsten Ausgaben, abgedruckt zu sehen. Drittens, und das soll nicht der geringwertigste Grund sein: Glauben Sie nicht unbedingt Ihren Ärzten, wenn diese Ihnen eine schlechte Prognosen stellen. Hinterfragen Sie alles, bis Sie alles verstehen, was Sie wissen wollen. Besinnen Sie sich auf Ihre Stärken, Ihren Optimismus, Ihre Familienangehörigen und Freunde, tauschen Sie sich aus, probieren Sie ggf. das aus, was Sie lieber machen würden als das, was Ihnen die Ärzte sagen. Aber natürlich: Hören Sie auch den Ärzten zu, meine Botschaft ist nicht: Die machen etwas falsch. Meine Botschaft lautet: Treten Sie in den Dialog, immer wieder und weiter, werden Sie die Expertin für Ihre Krankheit, horchen Sie in sich hinein.

 

Übrigens: Seit Januar 2015 bin ich Vater von zwei erwachsenen Kindern, die ich adoptiert habe. Das lag für mich nahe, denn der Unterschied zwischen Adaption (an die Krankheit) und Adoption ist nur ein Buchstabe.

 

Sicherlich habe ich in einigen Situationen meines Lebens auch viel Glück gehabt. Gibt es irgendeinen Grund, warum Sie nicht ebenfalls Ihr Glück herausfordern und „Ihren Weg“ gehen? Nein, es gibt keinen Grund!

 

Meine Dialyse begann 1993 bei einem Kreatinin von 18, ich wollte nicht eher beginnen, hatte die Dialyse bis zuletzt verdrängt. Ich war mit dem Beginn der Dialyse traurig, sauer und frug mich: Wieso gerade ich? Es gibt so viele Idioten, warum haben die kein Nierenversagen aber ich?

 

Ich las Bücher über chronische Krankheiten, sprach viel mit meinem Dialysearzt und kam nach ca. einem Jahr zu dem Schluss: Wenn der liebe Gott solche Krankheiten schon nicht verhindern kann, dann gibt er sie denjenigen, die sie (er)tragen können.

Ich sprach mit meiner Krankheit und machte ihr klar, dass sie mich nicht kleinkriegen würde, dass wir uns arrangieren müssten und dass sie mich bereichern und stärker machen würde. Allerdings antwortete sie, dass ich sie auch nicht kleinkriegen würde. Salopp formuliert, war nun meine Haltung „immer einmal mehr aufstehen als ich hinfalle“, und, vor dem Weitergehen zuerst meine Kappe mit dem Logo vom FC Liverpool  richten.

 

Stimmt doch gar nicht?

Doch, probieren Sie es aus, schreiben Sie uns über Ihre Erlebnisse, Ihre Dialoge mit Ihrer Ärztin und Ihrer Krankheit, Ihrer Familie, Ihren Freunden.

 

Bess demnähx!

Mario Rosa-Bian

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